Der Tag, an dem Nirveli fast alle ihre Formen und Zeiten verlor und wie es dazu kam, dass Verben auch großgeschrieben werden können
Eines Tages beschlossen Lucy-Lynn und Nirveli genannt „Nelly“ einen Ausflug zur Burg Greifenstein in der Nähe von Stockerau in Niederösterreich zu machen. Schließlich war es Sommer und Lucy-Lynn hatte soeben erst ihre Liebe zur österreichischen Mittelaltergeschichte entdeckt. Da bot sich die Burg, die 1135 erstmals urkundlich erwähnt wurde, als besonderer Ausgangspunkt für eine Reise entlang der Donau zurück Richtung Passau an.
Sie starteten früh los, um sich unterhalb der Pechnase der Burg mit Eulalia zu treffen, die den Ausflug nutzen wollte, um die wunderschöne, niederösterreichische Landschaft von oben zu entdecken. Nachdem die drei die Burg besichtigt hatten, war es längst Mittag und die Sonne hatte die Luft bereits ziemlich aufgeheizt. Also entschieden Lucy-Lynn und Nirveli sich in einem der Donauarme abzukühlen, während Eulalia sich ein schattiges Plätzchen hoch oben auf einer alten Fichte in der Nähe des Donauufers suchte, um ihr wohlverdientes Nickerchen zu halten.
Lucy-Lynn und Nirveli plantschten fröhlich im seichten Wasser und Nirveli versuchte sich an neuen Wasserballettfiguren, als sie plötzlich vor Schreck aufschrie. Irgendetwas hatte sie an ihrem linken Hinterlauf gekitzelt. Lucy-Lynn nahm all ihre Zehen in die Hufe, um Nirveli zu Hilfe zu eilen und herauszufinden, was das Ungetüm war, das Nirveli so erschrecken konnte. Bei ihr angekommen, entdeckte sie eine 80 cm lange Barbe, die nicht abließ, Nirveli mit ihren vier Barteln weiter zu kitzeln.
Doch bevor Lucy-Lynn Nirvelis Vorderhuf greifen konnte, um ihr ans Ufer zu helfen, rutschte Nirveli aus und geriet so in einen Wasserstrudel, der sie ganz fürchterlich umherwirbelte. Nach Luft schnappend und aus Angst zu ertrinken Wasser spuckend, brüllte Nirveli: „Rette miiihich!“. Doch die Strömung des Strudels war zu reißend und Lucy-Lynn wusste nicht, wie sie ihre Freundin aus diesem Dilemma befreien könnte.
Während Lucy-Lynn also etwas hilflos und nachdenklich im knietiefen Wasser stand, ruderte Nirveli immer heftiger mit ihren Armen und ging dabei immer öfter unter. Bei jedem Auftauchen jaulte sie noch verzweifelter, doch Lucy-Lynn verstand kein Wort. Einmal rief Nirveli: „haben üben“, ein anderes Mal „bin gerutschen“, dann „würde ertranken“ und danach „müssen geretten“. Verwirrt schaute Lucy-Lynn umher, um irgendwo einen langen Ast, ein Seil oder Ähnliches zu finden. Aber sie fand nichts davon am Ufer. Plötzlich hörte sie über sich einen gellenden Raubvogelschrei: „Heureka!“ kreischte Eulalia mit einer langen Liane in ihren Fängen.
Während Eulalia über Nirveli kreiste, um ihr die Liane zuzuwerfen, stapfte Lucy-Lynn als ausgezeichnete Schwimmerin mutig Richtung Wasserstrudel. Nach einigen missglückten Versuchen gelang es den beiden ihre Freundin endlich sicher an Land zu retten.
Völlig außer Atem, hustend und keuchend am Ufer sitzend, erholte sich Nirveli langsam von ihrem Schock. „Da hast du wirklich Glück gehabt!“ raunte Eulalia und flog müde davon, um sich wieder auf ihren schattigen Ast zu verkriechen und dort weiter zu dösen. Immerhin war für sie ja Schlafenszeit.
Lucy-Lynn rüttelte heftig an Nirvelis Schulter und meinte: „Nirveli, wie geht es dir? Sprich mit mir! Ist alles in Ordnung? Was ist passiert?“.
Verwirrt blickte Nirveli ins Leere. Tausend Verben schwirrten in ihrem Kopf umher, aber sie konnte kein einziges von ihnen fassen. Alle Formen und alle Zeiten in ihr waren irgendwie durcheinandergeraten. Und so stammelte sie nur noch lauter Infinitive, um das zu erzählen, was passiert war: „lachen, glitzern, plantschen, üben, kitzeln, erschrecken, ausrutschen, schreien, untergehen, werfen.“
Lucy-Lynn erkannte sofort, dass mit Nirveli etwas nicht stimmte und versuchte ihr klar zu machen, dass sie sich aufrichten und schnell zurück auf ihre Hufe kommen musste. Als Nirveli endlich wieder kerzengerade neben Lucy-Lynn stand, geschah etwas Eigenartiges: Sie verstand plötzlich, dass sie mit Lucy-Lynns Hilfe die kleinen Anfangsbuchstaben der Nennform in Großbuchstaben verwandeln konnte. Und das ganz ohne Eulalias Zutun! Und so erzählte sie, erfreut über diese Erkenntnis, in der einzigen Zeitform, an die sie sich noch erinnern konnte, was sich zugetragen hatte:
„Das Glitzern des Wassers war so schön und das Lachen so fröhlich. Das Plantschen und das Üben neuer Figuren machten mir Freude, aber durch das Kitzeln der Barbe rutschte ich aus. Das Erschrecken, das Ausrutschen und das Schreien weckten Eulalia. Das Untergehen im Wasserstrudel war ganz und gar nicht lustig. Das Werfen der Liane rettete mich an Land.“
So kam es, dass Lucy-Lynns und Nirvelis Freundschaft noch vertrauter wurde und sie von da an immer wieder gemeinsam neue und tolle Abenteuer erlebten.